- Pléiade: Der Bruch mit mittelalterlichen Traditionen
- Pléiade: Der Bruch mit mittelalterlichen TraditionenIm 16. Jahrhundert weiteten sich in vielen Wissens- und Lebensbereichen die Horizonte - geographisch mit den gewaltigen Entdeckungen neuer, fremder Gebiete und Kontinente, astronomisch-kosmologisch durch die aufwühlenden Erkenntnisse des Kopernikus, religiös mit den neuen Glaubensüberzeugungen Luthers und Calvins, literarisch-künstlerisch und gelehrt durch die Anregungen, die die italienische Renaissance und der italienische Humanismus in die Länder diesseits der Alpen brachten, für deren Verbreitung wiederum »die zehnte Muse«, Johannes Gutenbergs Buchdruckerkunst, sorgte. Das Mittelalter, die zwischen der Antike und ihrer neuzeitlichen Wiedergeburt (französisch »Renaissance«), liegende Zeit, musste in allem überwunden werden. Ihre geistigen Hervorbringungen wurden oft nicht ohne Misstrauen betrachtet, ins Lächerliche gezogen oder am liebsten gleich abgeschafft, wie es ein glühendes, inbrünstiges und manchmal auch freches literarisches Manifest von 1549, die »Défense et illustration de la langue française«, forderte. Redigiert wurde es von Joachim Du Bellay, hervorgegangen aber ist es aus den Diskussionen einer Dichtergruppe, die von einem ihrer Mitglieder, dem »Dichterfürsten« Pierre de Ronsard, in Anlehnung an eine alexandrinische Dichtergemeinschaft »Pléiade«, das »Siebengestirn«, genannt wurde. Nach Ronsards Auffassung gehörten ihr außer ihm selbst und Du Bellay noch Jean Dorat, Jean Antoine de Baïf, Étienne Jodelle, Rémy Belleau und Pontus de Tyard an.Mit diesem Manifest der poetischen Avantgarde des französischen 16. Jahrhunderts verfolgten Du Bellay und seine Freunde zwei Ziele. Sie wollten die Stellung des Französischen gegenüber der immer noch starken Position des Lateinischen festigen, die Nationalsprache bereichern und der französischen Literatur zu jenem Glanz verhelfen, der in so einzigartiger Weise die italienische auszeichnete. Der Weg dahin war für sie klar. Die Formenvielfalt der mittelalterlichen Dichtung musste beschnitten werden, die neuen lyrischen Formen hatten sich an den antiken Gattungen von Ode und Elegie, von Epigramm und Eklogen zu orientieren sowie am italienischen Sonett. Die Imitation, die nie sklavisch sein durfte, die inspirierte Nachahmung der antiken Autoren, aber auch der italienischen Dichter, von Petrarca bis Sannazaro und Ariosto, wurde zum entscheidenden dichtungstheoretischen Prinzip. Der Dichter der Zukunft musste seinen Stil, seine sprachliche Gestaltungsfähigkeit Tag und Nacht durch die immer wieder neue Lektüre vorbildlicher Werke schulen, zu Verzicht und Askese bereit sein und die Einsamkeiten der schöpferischen Existenz aushalten können, um Ruhm und Unsterblichkeit zu erlangen. Fern von den anderen und ihrem Treiben, in der Stille der Natur oder der Dichterklause, wird dem Musenjünger jener Moment des Heraustretens aus der irdischen Enge zuteil, in dem ihm sein göttlicher Wahnsinn die poetische Äußerung eingibt. Voller Pathos und Emphase, mit revolutionärer Begeisterung beschreibt Du Bellay diese Einswerdung des Dichters mit dem Göttlichen, die sich aus dem göttlichen Ursprung der Dichtung ergibt. Zugleich aber rät er dem Dichter auch ganz praktisch, sein Werk nach dem inspirierten Augenblick noch einmal zu bearbeiten, zu verbessern und zu berichtigen. Der wahre Dichter muss die Fähigkeit besitzen, alle Empfindungen bei seinen Lesern oder Zuhörern auszulösen: Empörung, Beruhigung, Freude, Schmerz, Liebe und Hass, Bewunderung und Verblüffung. Nur dann kann die Dichtung, ihrer hohen Herkunft gemäß, auf die wenigen, die um ihre Bedeutung wissen, wirken.Du Bellay griff hier Vorstellungen von Aristoteles und seinen italienischen Kommentatoren, von Horaz, Quintilian und Sperone Speroni auf. Über sie hatte er mit seinen Freunden am Collège de Coqueret immer wieder intensiv diskutiert. Leiter dieses Collège war seit 1547 Jean Dorat, herausragender Gräzist und vorzüglicher Latinist. Dorat wirkte auf die Pléiade-Dichter wie ein Katalysator und legte mit seiner umfangreichen humanistischen Bildung den Grund für ihr sprachliches und literarisches Engagement.Die erste Gedichtsammlung, die ganz den Prinzipien von Sprachbereicherung und Nachahmung verpflichtet ist, stammt ebenfalls von Joachim Du Bellay. Es ist das petrarkistische Liederbuch »L'Olive« (1549), in dem Du Bellay Anregungen Petrarcas und seiner italienischen Imitatoren aufnimmt, um eine junge Frau zu preisen, die in einzigartiger Weise geistig, seelisch und körperlich vollkommen ist. Die Liebe, die er feiert, ist die unerfüllte und unerfüllbare des »Canzoniere«, die jedoch den Liebenden der Vollkommenheit der Geliebten nahe bringt. Sie ist eine Idee, beseelt von den Vorstellungen des Florentiner Neuplatonismus, die letztlich auf die Unsterblichkeit verweist, die der Dichter durch seine sprachlichen Schöpfungen erlangen kann. Doch bereits 1553 wendete Du Bellay sich von der petrarkesken Dichtung ab und forderte eine natürlichere Darstellung der Liebe wie sie der Wahrheitsbegriff der aristotelischen Dichtungstheorie verlangt.Während eines Aufenthaltes in Rom entstanden seine reifsten Dichtungen, die »Antiquités de Rome« als Preisung der einstigen Größe und als Ausdruck der Trauer über den Niedergang Roms, und die »Regrets«, in denen er seine Enttäuschungen und Sehnsüchte, sein Heimweh nach Frankreich und seine Abneigung gegen das Leben am päpstlichen Hof melancholisch und satirisch schildert. Als Du Bellay 1560 starb, erlosch die zerbrechlichste Stimme aus dem Kreis der Pléiade, deren eigentlicher Kopf von Anfang an Pierre de Ronsard war.War Du Bellay eine Stimme, dann war Ronsard ein Orchester. Er verfasste Oden und Hymnen, Sonette und Epigramme, Elegien, politische Dichtung und ein Fragment gebliebenes Epos. Sein Genius verkörperte geradezu die Pléiade. Er imitierte Pindar und Homer, Vergil und Ovid, Petrarca und Ariosto. Er war in einer unvorstellbaren Weise belesen und bearbeitete aufgrund neuer Lektüren, neuer Einsichten in die Klangmöglichkeiten seiner Muttersprache die eigenen Werke bis an sein Lebensende. Er schrieb Gedichte, deren Harmonie die Vertonung einfordert, die in keiner Anthologie der französischen Lyrik fehlen und die französische Schüler noch heute auswendig lernen. Die größte Vollendung erlangte Ronsard in seinen Liebesdichtungen. 1552 veröffentlichte er eine erste, noch ganz idealisch-petrarkesk gestimmte Sammlung, die der jungen Adeligen Cassandre Salviati gewidmet war. In den Gedichten für die Bäuerin Marie schlug der Dichter einen Ton heiterer Sinnlichkeit an und setzte an die Stelle von Petrarcas Idealität und erhabener Sprache größere Wirklichkeitsnähe und natürlicheren Stil. 1578 schließlich richtete Ronsard einen Sonettzyklus an die Hofdame Hélène de Surgères, in dem er als gelassener, altersweiser Petrarkist die Liebe zu der jungen Frau besingt, die wegen seines Alters unerfüllt bleiben wird, aber von ihr vielleicht doch durch die Schönheit seiner Verse erwidert werden könnte.Die Dichtungen Ronsards und Du Bellays, aber auch die der anderen Pléiade-Autoren, haben die 1549 programmatisch geforderte Veränderung der französischen Literatur bewirkt. Das lyrische Erbe des Mittelalters wurde verfeinert integriert oder überwunden und neue, renaissancehafte Töne erfüllten nun die französische Literatur, bis die politischen Ereignisse und Entwicklungen tragischere zum Erklingen brachten.Prof. Dr. Wolf-Dieter LangeFranzösische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
Universal-Lexikon. 2012.